Entwicklungszusammenarbeit möchte die Welt durch Kooperation gerechter und gesünder machen. Engagierte aus allen Ländern – sowohl Reiche als auch Arme, bauen organisatorische Ketten, um einander bei ihrem Bestreben für eine bessere Welt zu unterstützen.
In postkolonialen Theorien wird festgestellt, dass unser globales Machtsystem nicht nur eine Erbe sondern auch eine Weiterführung des Kolonialismus ist. Obwohl die imperialistische Mächte in Westeuropa den Rest der Welt nicht mehr direkt beherrschen, nutzen sie die ehemals kolonisierten Länder (nachfolgend „der Globale Süden" genannt) weiter. Zum Beispiel stillt das globale Wirtschaftssystem seinen Ressourcenhunger, ohne die dort wohnenden Bevölkerung am Gewinn zu beteiligen. Noch immer werden die kulturellen und sozialen Traditionen Westeuropas und des englischsprechenden Nordamerikas (nachfolgend: „der Globale Norden“) als hochwertiger bezeichnet. Stimmen aus dem Globalen Süden werden oftmals als chaotisch, exotisch, und primitiv verworfen.
In diesem Kontext arbeiten Nichtregierungsorganisationen, um die Auswirkungen dieses brutalen Systems, unter anderem Armut, Hunger, Mangel an Ausbildungsmöglichkeiten und Zugang zu Gesundheitsvorsorge, zu bekämpfen. Doch ist es in den letzten paar Jahrzehnten anerkannt worden, was Engagierten im Globalen Süden längst klar war: Dass nördliche Nichtregierungsorganisationen ebenfalls eine stetige Rolle spielen bei der Unterdrückung des Globalen Südens. Mit dem ernsthaft-gemeinten Ziel „unterentwickelte“ Gemeinschaften im Globalen Süden zu helfen, sind viele Organisationen in der Praxis den kulturellen und institutionellen Prioritäten des Globalen Nordens gefolgt, ohne sich mit den Bedürfnissen und Wünschen der Zielgemeinschaften intensiv zu befassen. Statt mit den Menschen, denen ihre Projekte helfen sollen, zusammenzuarbeiten, machen die Projektplaner*innen, Geldgeber*innen, und andere Nichtregierungsfacharbeiter*innen das, was aus ihrer Perspektive für die Gemeinschaft am besten ist.
Auch die Nichtregierungsorganisationen, die Zusammenarbeit auf Augenhöhe als zentrales Ziel haben, finden es schwierig, die Machtunterschiede in ihrer Arbeit zu überwinden. Aber wie können nördliche Nichtregierungsorganisationen trotz der brutalen kolonialen Machtstrukturen effektive und gerechte Projekte im Globalen Süden gestalten?
Alle entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen müssen im Alltag mit den normalen logistischen Herausforderungen eines Vereins (zum Beispiel Finanzierung, Kommunikation mit Mitarbeitenden und Mitgliedern) umgehen. Um die Welt trotzdem gerechter zu machen, müssen sie sich bewusst machen, wie die globale Zusammenhänge auf ihre konkrete Arbeit wirken und auch ihre Projekte und Methoden als Teil des größeren Kontextes verstehen. Hier werden die Erfahrungen einige Mitgliedorganisationen des ENS präsentiert, um zu zeigen, wie solche Projekte in der Wirklichkeit aussehen können.
Es wird sowohl von postkolonialen Akademiker*innen als auch von aktiven Fachleuten aus dem Netzwerk betont, dass alle erfolgreichen und gerechten Projekte echte Zusammenarbeit brauchen. Das heißt, dass die Bevölkerung vor Ort in allen Entscheidungsprozessen auf Augenhöhe miteinbezogen werden muss. Um das zu schaffen arbeiten viele Nichtregierungsorganisationen aus dem globalen Norden mit einer Partnerorganisation in der Zielgemeinschaft (einem sogenannten "Südpartner") zusammen. Doch gerechte Machtverteilungen in solchen Partnerschaften zu schaffen ist nicht einfach. Erstens, haben nördliche Nichtregierungsorganisationen wegen des internationalen Wirtschaftssystems mehr finanzielle Förderung, mit der sie automatisch mehr Kontrolle über die Projekte haben. Zweitens, müssen gemeinsame Entscheidungsprozesse auch die Wirkungen des kulturellen Imperialismus überwinden. Wegen der langen Geschichte von Kolonialismus, verstehen viele Engagierte im Globalen Norden die Sprachen, Traditionen und Wahrnehmungen von Leuten aus dem Globalen Süden nicht. Sie nutzen deshalb unbewusst ihre größere Macht, um in der Zielgemeinschaft etwas zu fördern, was eigentlich nicht gewollt ist.
Wer Geld hat, hat die Macht. In der Arbeit der Nichtregierungsorganisationen heißt das, dass der Nordpartner die Richtung des Projekts vorgeben kann. „Dieses Denken gibt's immer noch, und dieses Tun gibt's immer noch. Die [nördliche] Nichtregierungsorganisationen können die einheimischen Nichtregierungsorganisationen manipulieren, weil sie Geld haben." sagt Elisabeth Nabanja-Makumbi, eine Referentin bei der Gesellschaft für Entwicklung International e.V. (GENINSA). In solchen Situation entstehen Projekte, die die Zielgemeinschaft nicht braucht oder will. Doch es gibt es auch Organisationen, denen diese Machtungleichheit bewusst ist und die eine gerechte Zusammenarbeit mit dem Südpartner anstreben.
Marie-Luise Lehmann, Referentin und Vorstandsvorsitzende bei Akifra e.V., sammelt Spenden für das „Father Michael Witte Education Centre" in Kandongu, Kenia. Sie beschreibt ihr Ziel, immer auf Augenhöhe mit ihren Partner zu arbeiten. „Für die Gemeinschaft wollen wir Wachstum, Prosperität, und Verbesserung. Dabei soll die Selbstwirksamkeit der Gruppe gewahrt bleiben." Dafür bemühen sich Frau Lehmann und ihre Mitarbeiter*innen bei Akifra, in allen Entscheidungsprozessen mit dem Partner zu kommunizieren: „Es geht ja nicht darum, sich auf ein Projekt draufzusetzen und zu sagen: 'Wir nehmen das jetzt alles in die Hand und das läuft jetzt hier wie es in Deutschland laufen würde.', sondern wir wollen mit den Vereinsmitgliedern vor Ort zusammenarbeiten und die nur das zu Verfügung zu stellen was sie von uns wünschen." Lehmann kam als Praktikantin mit der Schule in Kontakt und fing an, nach Finanzierungsmöglichkeiten in Deutschland zu suchen. Damit behält der Südpartner seiner Kontrolle über das Projekt.
Beim Verein SAIDA International, der sich weltweit und vor allem in Burkina Faso, Kamerun, und Deutschland für Frauen- und Kinderschutz sowie reproduktiver Gesundheit einsetzt, wurden die Prioritäten von den lokalen Autoritäten festgelegt. Dazu Gründungsmitglied Simone Schwarz: „Die lokalen Partner organisieren sich eigenständig. Die Aufgabe von SAIDA ist die Suche nach finanziellen Mitteln." SAIDA unterstützt zum Beispiel in ihrer Partnergemeinde in Gomboro, Burkina Faso ein Programm für Mädchen, die eine Ausbildung und regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen bekommen, um sie vor Zwangsheirat und Genitalbeschneidung zu schützen.
Akifra-Mitarbeiterin Lynn Hövelmann arbeitet auf eine ähnliche Weise mit der Mamre Rural Development Organisation (MARUDO), die von einer Frauengruppe im ländlichen Uganda vor Ort gegründet wurde, zusammen. Mit dem Ziel, jungen Frauen eine Möglichkeit für Selbstbestimmung und wirtschaftliche Unabhängigkeit zu geben, bietet diese Gruppe seit 2004 fachliche Bildung an. Aus Hövelmanns Sicht ist Kommunikation auf persönlicher Ebene wichtig, um kulturelle und Erfahrungsgrenzen zu überwinden. Die akademische Forschung bestätigt diese Aussage. Nach einen Artikel von Mawdsley et al. (2005), verstärkt der direkte Dialog zwischen Nord- und Südpartner Angesicht-zu-Angesicht eine gute Zusammenarbeit.
Nach Dr. Jürgen Kunze, Gründungsmitglied und Vorstandsitzender der Deutschen-Afrikanischen Gesellschaft (DAFRIG), ist für eine gute persönliche Partnerschaft das wichtigste Charakteristik eine gute Projektleitung. Jedes Projekt bei DAFRIG ist eine Kollaboration mit einem Südpartner und wird von zwei Verantwortlichen geleitet: Ein Verantwortlicher vom DAFRIG-Verein (eng mit dem Vorstand zusammenarbeitend) und ein Verantwortlicher aus dem afrikanischen Land, der vor Ort in der Zielgemeinschaft tätig ist. Kunze erklärt, dass diese Partnerschaft Verständnis und Vertrauen braucht: „Die beiden Leiter müssen kommunizieren können. Die müssen sich wechselseitig anerkennen, sich auf einander verlassen können."
Organisationen wie DAFRIG, SAIDA und Akifra bekommen für ihre Projekte von verschiedenen Geldgebern, unter anderem Stiftungen, Schulgruppen und Privatpersonen, Förderung. Diese Geldgeber haben alle ihre individuellen Prioritäten und Erwartungen, zum Beispiel, dass der Nordpartner bestimmte Ziele ausdrücken kann und messbare Wirkungen zeitig aufzeigt. Manchmal kommen diese Voraussetzungen mit den Erwartungen der Südpartner in Konflikt. Gerardo Palacios Borjas, Berater für das ENS, beschreibt dieses Problem aus seiner Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit in Honduras und Deutschland: „Die Entwicklungszusammenarbeiter aus Deutschland haben bestimmte Ziele die sie erreichen müssen und wollen. In Honduras fokussiert man mehr auf die Wirkungen: 'Hat das irgendwas verändert?' Und das sind zwei unterschiedliche Herangehensweisen, weil du messen kannst, ob du Ziel 1, 2, 3, geschafft hast, aber wenn du nicht forschst, ob das eine Veränderung in das Leben von Menschen gebracht hat, dann hast du kein richtiges Ergebnis." Dazu, erzählt Palacios Borjas, ist es in manchen Zielgemeinschaften üblich, alles was von Entwicklungsarbeitern angeboten wird zu nehmen, auch wenn man nicht zustimmt, weil man den Anbieter nicht beleidigen möchte. Solche Probleme können durch langfristigen Partnerschaft und interkulturelles Bewusstsein gemeinsam überwunden werden. Deshalb sind Geldgeber, die sich der postkolonialen Projektführung bewusst sind und Nord-Süd Partnerschaft fördern wollen, sehr wichtig.
„Genialsozial: Deine Arbeit gegen Armut" ist eine Initiative von der Sächsischen Jugendstiftung, die Schüler*innen für einen Tag arbeiten schickt und deren Löhne für Projekte im Globalen Süden verwendet werden. Initiativen, die sich um Förderung bewerben, müssen beweisen, dass sie eine lange und beständige Erfahrung mit Nord-Süd-Beziehungen und eine auf Augenhöhe basierende Partnerschaft mit dem Südpartner haben. Projektleiterin Jana Sehmisch sagte, „Uns ist zum einen die Partnerschaft auf Augenhöhe ganz wichtig. Die Bedürfnisse der Zielgruppe im Süden haben oberste Priorität. Wir wollen wissen, ob der Bedarf einer Schule, eines Krankenhauses oder einer Geburtsstation bei den Menschen vor Ort gegeben ist und kommuniziert wurde. Hat der Südpartner die direkte umliegende Bevölkerung einbezogen in diesen Entscheidungsprozess? Ohne das Wollen der Menschen, die vor Ort leben, wird so ein Projekt nicht nachhaltig Bestand haben."
Um Verständnis und Vertrauen in einer beständigen Partnerschaft auf Augenhöhe sicherstellen zu können, braucht es eine intensive Kommunikation - und zwar zwischen Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und Erwartungen. Palacios Borjas ist der Meinung, dass diese interkulturelle Kommunikation eine der größten Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit ist: „Einige sagen, dass wir im Süden nicht organisiert sind, aber das stimmt nicht. Wir sind nur anders organisiert, anders strukturiert. Und das zu verstehen, wahrzunehmen, und zu respektieren ist sehr schwierig." Solche Grenzen des Verständnisses zwischen Nord- und Südpartner behindern gemeinsame Entscheidungsprozesse in allen Phasen eines Projektablaufs.
Für Nabanja-Makumbi sind vor allem Sprachgrenzen bei solchen Missverständnissen zentral. Nichtregierungsorganisationen kommunizieren überwiegend auf Englisch. Dies führt dazu, dass Zielgemeinschaften und Südpartner im Nachteil sind, da sie sich nicht in ihrer Muttersprache ausdrücken können, sondern mit der Sprache einer ehemaligen Kolonialmacht. Besonders schwierig wird es, wenn, wie es Nabanja-Makumbi erlebt hat, durch einen Vertreter einen Projektidee erklärt werden soll, der vielleicht selbst nicht alles versteht. Dann werden bei den sogenannten „auf Augenhöhe Entscheidungsprozessen" in der Wirklichkeit nur die Ideen des Nordpartners fortgeführt.
Projekte von Nichtregierungsorganisationen aus dem Globalen Norden, Deutschland und Sachsen eingeschlossen, müssen also Menschen aus ihren Zielgemeinschaften einbeziehen, zuhören, und verstehen. Natürlich ist es in jeder Partnerschaft genauso: Ohne gute Kommunikation kann es keine Zusammenarbeit geben. Doch in der Entwicklungszusammenarbeit ist Verständigung nicht einfach. Sprachkenntnisse, Wissen um Geschichte, und Kultur der Partner fehlt oft auf beiden Seiten. Um diese Herausforderungen zu überwinden, brauchen Partner persönlichen Kontakt, Verständnis von individuellen und interkulturellen Gegebenheiten und den Ungleichheiten der Weltmachtstruktur. Solche Beziehungen können von postkolonial-bewussten Geldgebern unterstützt werden und Organisationen wie das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen können helfen, informierter zu werden und davon eine bessere Praxis zu entwickeln
Warum ist das alles wichtig? Damit man effektiver eine gerechtere Welt verwirklichen kann. Nur wenn man die Wirkungen der kolonialistischen Weltmachtstrukturen erkennt, und in der Praxis darauf achtet, dass man sie nicht weiterführt, kann man den Lauf dieser Geschichte ändern. Entwicklungspolitische Nichtregierungsorganisationen müssen also Bevölkerungen weltweit und empowern, nicht nur mit finanziellen und wissenschaftlichen Mitteln, sondern auch mit der Macht, ihre eigene Zukunft zu entscheiden und zu kontrollieren.
Bibliografie:
Interviews mit Elisabeth Nabanja-Makumbi, Jana Sehmisch, Lynn Hövelmann u. Marie-Luise Lehmann, Jürgen Kunze, Simone Schwarz, Gerardo Palacios Borjas
Mawdsley, Emma, Townsend, Janet G., Porter, Gina "Trust, Accountability, and Face-to-Face Interaction in North South NGO Relations. Development in Practice Vol 15 No1, Feb 2005, pp.77-82
Das Schiff „Lifeline“, das Herzstück des Seenotrettungsvereins Mission Lifeline aus Dresden, schaukelt sanft im Hafenbecken auf Malta. „Die alte Lady“, wie Maschinist Moje sie liebevoll nennt, ist mehr als nur ein Schiff. Sie verkörpert Hoffnung und Leben, für viele in Seenot geratene Flüchtende auf einer der gefährlichsten Fluchtrouten Europas - dem Mittelmeer.
Gegründet hat sich der Verein im April 2016, nachdem die Fluchtroute über den „Balkan“ durch den EU-Türkei Deal geschlossen wurde. Seitdem versuchen tausende Menschen über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, vor Hunger, Verfolgung, Krieg und Folter. Mehr als 7500 Menschen haben seither ihr Leben im Mittelmeer gelassen. Einige zivile Seenotrettungsorganisationen versuchen dem Sterben entgegenzutreten, indem sie mit ihren Schiffen in der Such- und Rettungszone vor der libyschen Küste operieren.
Seit September 2017 ist nun auch die „Lifeline“ von Mission Lifeline aktiv vor Ort. Der Verein setzt da an, wo die Politik versagt. „Das Suchgebiet ist riesig. Die meisten Tragödien auf dem Mittelmeer geschehen, ohne dass dies bekannt wird. Ein zusätzliches Schiff auf den Weg zu bringen, lag auf der Hand. Dabei zusehen, wie die europäischen Staaten willentlich Menschen ertrinken lassen, können wir nicht. Wenn der Staat zum Mörder wird, ist die Zivilgesellschaft gefragt.“, erklärt Pressesprecher Axel Steier.
Folter, Vergewaltigung und sogar willkürliche Hinrichtungen: Von all dem berichten Geflüchtete aus Libyen.
Ein sinkendes, überfülltes Schlauchboot auf dem Mittelmeer: Private Hilfsorganisationen retten die Geflüchteten und ziehen sie an Bord ihres Schiffes. Szenen, die sich in den vergangenen Jahren fast täglich wiederholten.
Seit dem Sturz von Machthaber Gaddafi versinkt das Land im Chaos, unterschiedliche Milizen ringen um die Macht. Längst gilt Libyen als gescheiterter Staat. Frauen werden vergewaltigt, Familien getrennt, Menschen wie Sklaven behandelt. Bis zu einer Million Geflüchtete sollen sich in Libyen aufhalten. Die Verzweiflung der Rechtlosen - das ist es, was die Menschen auf die wackligen Boote Richtung Europa steigen lässt. Der Funken Hoffnung, die Fahrt zu überleben - und dem Elend in Libyen zu entkommen.
Europäische Solidarität hat sich als ein Wunschdenken erwiesen, Ergebnisse davon sind der EU-Türkei-Deal, der Verhaltenskodex für NGOs von der italienischen Regierung und die Externalisierung der Außengrenzen durch finanzielle „Kooperation“ mit afrikanischen Staaten, insbesondere mit Libyen.
Italien, das von der EU unterstützt wird, kooperiert mit der Libyschen Küstenwache, um private Rettungsorganisation an der Rettung von Menschenleben zu hindern. Der Vorwurf an die Hilfsorganisationen: Ihr Einsatz vor der Küste Libyens animiere die Schleuser, nur noch mehr Fliehende auf noch wackligere Boote zu setzen. Damit ist jetzt Schluss: Libyens Küstenwache erweiterte ihren Einsatz auch über die Zwölf-Meilen-Zone hinaus und sagte den Hilfsorganisationen den Kampf an. Die Mär der Sogwirkung wurde zwar in zahlreichen Studien widerlegt und dennoch wird die Arbeit von NGOs im Mittelmeer weiterhin massiv behindert. Seenotrettungsvereine werden kriminalisiert und sind willkürlichen Übergriffen von Milizen und der libyschen Küstenwache ausgesetzt.
Doch der Deal, den Italien mit Libyen geschlossen hat, ist für Europa attraktiv. Die Rechnung ist makaber und plausibel zugleich: Retten europäische Hilfsorganisationen Geflüchtete, unterliegen sie dem non-refoulement-Prinzip und können die Menschen gemäß internationalem Recht nicht nach Libyen zurückbringen. Es wird offenbar davon ausgegangen, dass Libyen selbst nicht diesem Prinzip unterliegt, obwohl dies strittig ist. Die Libyschen Küstenwachen sind einzelne Milizen, die versuchen geflüchtete Menschen auf dem Mittelmeer abzufangen und diese zurück nach Libyen zu schaffen. Dass dies für die Sponsoren - also Italien und die EU - bedeuten könnte, an einer Völkerrechtsverletzung mitzuwirken, wird häufig übersehen. Anwälte bereiten schon jetzt Schadensersatzforderungen gegen Italien vor. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wurden allein in diesem Jahr schon 12.000 Menschen auf diesem Wege zurück nach Libyen gebracht - das sind alles Fälle, um die sich Europa nicht kümmern muss.
Die einzigen, die von diesen militaristischen Maßnahmen profitieren werden, sind Schmugglernetzwerke, weil die Menschen in ihrer Verzweiflung nur Schmuggler in Anspruch nehmen können, um Ländergrenzen zu passieren. Die Maßnahmen der Abschottung führen nur zu einem: Menschen nehmen immer riskantere Fluchtrouten auf sich, Schmugglernetzwerke profitieren und noch mehr Menschen sterben.
Mit dieser Politik wird das Fluchtelend nicht bekämpft, es wird nur verlagert an Orte, an denen keine Kameras vorbei kommen - weitere Bilder von toten Kindern an europäischen Stränden werden damit vielleicht verhindert, aber dieselben Kinder sterben vorher in libyschen Lagern, in der Wüste oder im Mittelmeer.
Dabei ist das Recht auf ein Asylverfahren essentieller Bestandteil des Rechts auf Schutz vor Verfolgung oder auch vor Folter oder unmenschlicher Behandlung - dieser Zugang wird aber mit den derzeitigen Entwicklungen verwehrt.
Das Mittelmeer – eine weitere Grenze die in Vergessenheit gerät.
Trotz des zunehmend schlechteren Wetters, legt erneut ein Stück Hoffnung vom Hafen auf Malta ab – die „Lifeline“. Es weht rauer Wind, nicht nur wetterbedingt, sondern auch aus politischer Richtung. Der Verein Mission Lifeline wird dennoch weiterhin denen das Leben retten, die von der Politik vergessen werden – Menschen die eine kleine Hoffnung nach einem Leben fernab von Misshandlung, Folter und Hinrichtung haben.
Und so schwankt die „alte Lady – die Lifeline“ nur mit privaten Spenden im Süden des Mittelmeeres, in einer der tödlichsten Zonen der Welt.