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Was die Flüchtlingsproblematik mit Entwicklungspolitik zu tun hat Doreen Grygar

Was die Flüchtlingsproblematik mit Entwicklungspolitik zu tun hat

geschrieben von  Dr. Miguel Ángel Ruiz Martínez Mai 21, 2015

Leipzig, Hoyerswerda, Schneeberg, Chemnitz: In den letzten Jahren – besonders jedoch seit 2012 – veröffentlichten deutsche Medien vermehrt Berichte, Meinungen und Bilder über Proteste gegen bzw. Versammlungen für neue Gemeinschaftsunterkünfte für Asylsuchende und Flüchtlinge. Krisen und Kriege, ständig neue Bilder über strandende Flüchtlinge in Lampedusa zeigen: Das Thema Asyl ist aktueller denn je, auch in Diskussionen mit entwicklungspolitisch Engagierten in Dresden, Leipzig und Berlin.

Akteure in der Flüchtlingsproblematik

Die Flüchtlingsproblematik umfasst verschiedene Akteure der Gesellschaft: Institutionen, Entscheidungsträger und nicht zuletzt die Medien sowie verschiedene räumliche und politische Dimensionen, die sich überlappen und manchmal unsichtbar werden. Zum Beispiel wird auf europäischer Ebene Frontext finanziell unterstützt, gleichzeitig bekommen zivilgesellschaftlichen Organisationen finanzielle Unterstützung von der Bundesregierung.1 Immer weniger ist klar, welche Rolle, Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortung jeder hat und welche Interessen und Ansichten er vertritt.2

Es geht zum einen um schutzlose Menschen, die auf der Flucht sind. Dies kann man sicherlich als direkte Folge der neoliberalen Globalisierung betrachten oder als indirekte Auswirkung, wie im Falle von Klima-Migrant_innen oder politisch Verfolgten. Sind diese Menschen, die nur als kollateraler Schaden des Fortschritts betrachtet werden, eine Aufgabe für die entwicklungspolitische Inlandsarbeit? Oder gilt es nur im Ausland, die Integrität und Würde dieser Menschen zu bewahren, wo sie als „echte“ vollwertige Partner und Zielgruppe der Zusammenarbeit gelten? Dabei betrifft die Situation, in der sich diese Menschen in Deutschland befinden, ebenfalls die Menschenrechte: Unwürdige Wohnsituation, soziale Isolation, kein Asylrecht, keine Arbeit, Einschränkung der Freiheit, Schutz, aber nur hinter Gittern, Misstrauen, Diskriminierung, Kriminalisierung, Menschenverachtung und nicht selten Gewaltanwendung gegen ihren Protest sind einige Stichworte.

Neue Nachbarn

Auf der anderen Seite sind die Anwohner_innen von Gemeinschaftsunterkünften in Leipzig, Schneeberg und anderswo Akteure in dieser Problematik. Menschen, die einer Masse an medialen Informationen ausgesetzt sind; Bildern der Außenpolitik, der internationalen Zusammenarbeit, der europäischen Migrationspolitik, Bilder über Flüchtlinge, Krieg, Meinungen, Stereotypen. Es sind Menschen, die auf dieser medialen Basis reagieren und handeln. Es sind Menschen oder Gruppen von Menschen, die mittelbar oder unmittelbar auf eine entwicklungspolitische Nachricht Position beziehen und handeln können. Sind dann die Anwohner_innen nicht zwangsläufig eine Zielgruppe der Entwicklungspolitik? Bourn D. schreibt „Definitionsgemäß geht es in der entwicklungspolitischen Bildung darum, Menschen zu befähigen, die Verflochtenheit ihres eigenen Lebens mit dem anderer Menschen in aller Welt zu begreifen“. 3

Fackelmärsche und Mahnwachen

Eine begleitende, opportunistische Erscheinung der Flüchtlingsproblematik bildet das Auftreten von Neonazis und rechten Organisationen. Sie versuchen die gesellschaftliche Unzufriedenheit mit der Politik zu ihren Gunsten zu kanalisieren und die daraus entstehenden Sozialbewegungen zu vereinnahmen, um Machtansprüche zu festigen. „Allein im ersten Quartal dieses Jahres zählten die Behörden zwanzig solche Kundgebungen - etwa so viele wie im gesamten Jahr 2013.“ Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervor, berichtete Spiegel Online am 29. Mai 2014. Bei Protesten, Mahnwachen, Versammlungen, und Fackelmärschen stilisieren sich Neonazis und ähnliche Kameradschaften zu „Beschützern“ der Anwohner_innen. Die Botschaften und Ziele sind klar: Verankerung von Ideologien der Ungleichheit, Fremdenfeindlichkeit und Menschenrechtsverachtung. Es sind Ideologien gegen das „Andersdenken“, gegen Minderheiten, gegen Demokratie. Die Strategie: Hetzen, Ängste schüren, vorhandene Stereotypen zuspitzen und verstärken. Die Erfahrung, die den Anwohner_innen mit den vermeintlich „Fremden“ fehlt, machen sie sich dabei zunutze.

In Leipzig war die Ankündigung über die Baupläne einer Moschee im Stadtviertel Gohlis ein hervorragender Anlass, das alles anzuwenden. Laut Prof. Zick von der Universität Bielefeld sympathisiert ein Viertel der Bevölkerung mit dem rechten Denkmodus. 4 Diese gehören keiner rechten Organisation an, es sind „normale“ Bürger_innen.

Beratungsstelle

Seit Ende 2012 verfolgt die migrantische Beratungsstelle des ENS den Lauf dieser Problematik in Leipzig. Bei der Kooperationsarbeit, bei der Betreuung und Begleitung von Gemeinschaftsunterkünften, in Vereinen und AGs werden entwicklungspolitische Aufgaben und Handlungsfelder sichtbar. Hier kommen entwicklungspolitische Arbeit, Bildungsarbeit und die Flüchtlingsproblematik zusammen.

Medien hinterfragen

Das Ausmaß der Proteste in Gegenden wo kaum Migranten wohnen, erzählt über die inneren Weltbilder den AnwohnerIn nen und hinterfragt die Rolle der Medien. Als Meinungsmacher haben die Medien Einfluss auf die Verbreitung von Rollenzuschreibungen und Klischees. Dazu kommt eine fehlende tiefere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Ideologien der Ungleichheit, Migration, Flucht oder Menschenrechte. Dies führt zu einer verzerrten Wahrnehmung von Flüchtlingen, Migranten und schwachen sozialen Gruppen der Gesellschaft. Diese Tatsache muss mit Anwohner_innen thematisiert und die Rolle der Medien hinterfragt werden. Wenn möglich mit innovativen Beiträgen oder Kommunikationsmitteln wie z. B. der Ausstellung „weiß-schwarz“ des ENS. (http://www. einewelt-sachsen.de/publikationen/ausstellung-weis-schwarz/ weiss-schwarz). „Medien (…) transportieren häufig falsche Klischees und Rollenzuschreibungen von Weißen und Schwarzen“, schreibt das Team der „weiß-schwarz“-Ausstellung des ENS. Die Ausstellungsbesucher_innen werden aufgefordert, sich mit eigenen Stereotypen und Rollenzuschreibungen auseinanderzusetzen.

Demokratie – schleichender Abbau?

Aber ist diese Erscheinung das Kernproblem für die entwicklungspolitische Arbeit? Oder nur eine Variante mehr des Problems? Die Praxis zeigt sehr ähnliche Muster bei anderen gesellschaftlichen Konflikten, wie Ausländerfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, Homophobie, Rassismus. Alle verbinden die gleichen Leitmotive: Ideologien der Ungleichheit, Neodarwinismus, Menschenrechtsverachtung, religiöse Intoleranz, Bevorzugen von diktatorischen Handeln etc.

Augenfällig ist, dass diese wiederkehrenden Leitmotive gegen die Vorstellung einer gerechten Eine Welt stehen, das bedeutet, sie stellen sich gegen die Überzeugung der entwicklungspolitischen Engagiert_innen.

Es liegt die Vermutung nahe, dass das Kernproblem sowohl bei einem tief liegenden Defizit des Demokratieverständnis liegt, wie die Bielefelder Forscher finden, als auch bei mangelhaften menschlichen Wertvorstellungen wie Solidarität, Gleichheit und Gegenseitigkeit im Sinne der Menschenwürde. Eine gewisse Unfähigkeit, um den Verlust dieser Wertvorstellungen mit den Auswirkungen einer neoliberalistischen Welt im Einklang zu setzen, könnte auch ein Problem sein.

Was würde es für die entwicklungspolitische Arbeit bedeuten, wenn weiter Partizipationsmöglichkeiten abgebaut und politische Steuerungen den Marktmechanismen überlassen werden. Demokratisches Denken sollte jedoch nicht mit der offiziellen oder institutionellen Ausübung der Demokratie verwechselt werden, welche öfter als lenkendes Instrument der Beteiligung ausgenutzt wird. Es geht nicht um die Art von Demokratie, die der Machtsicherung dient, die Besatzungspolitik, Zerstörung und Bereicherung rechtfertigt. Es geht um eine einschließende aktive Partizipation der Mehrheiten und Minderheiten in gemeinsamer Verantwortung von Entscheidungsprozessen. Es geht um eine Demokratie, die das Gemeinwohl von Individuum und Gemeinde anstrebt, um die Bewahrung einer Lebensform, welche unter dem wirtschaftlichen Druck der Globalisierung allmählich lautlos eingeschränkt und abgeschafft wird.5

Zusammenhänge herstellen

Insofern ist es eine Herausforderung für die Eine-Welt-NRO die entscheidenden Zusammenhänge von systemischen und lokalen Kernaspekten dieser „konfliktiven Themen“ zu hinterfragen und zu entschlüsseln Und so zu erkennen, dass die Fluchtursachen nicht naturgegeben sind, sondern wirtschaftspolitisch in der Weltgesellschaft kreiert werden und deshalb grundsätzlich veränderbar sind. Die Antwort der Zivilgesellschaft auf den schleichenden Demokratie-Abbau sollte ebenfalls als Handlungsfeld betrachtet werden. Wer organisiert den Widerstand? Warum? Mit welchen Zielen und Mitteln? Dabei sind Bürgervereine, interreligiöse Gruppen, Antirassismus-Aktivisten aber auch mehrere Kirchengemeinden vor Ort gefragt. Sie wären dann Zielgruppen des entwicklungspolitischen Ansatzes. Hier können entwicklungspolitische Vereine in der Organisationsarbeit, der Themenauswahl und der Beleuchtung des Problems einen Beitrag leisten.

Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft

Die Sensibilisierung der Mehrheitsgesellschaft ist eine wichtige Aufgabe, um eine breite Akzeptanz von Migrant_innen zu erreichen, ebenso wie eine breite zivilgesellschaftliche Unterstützung für entwicklungspolitische Themen. Aufklärungsarbeit kann jedoch nicht als bloße Vermittlung von Fachinformationen, Daten oder Aussagen betrieben werden. Ziel dieser beiden Ansätze ist der Aufbau von gegenseitigen Vertrauen und Respekt, die sind die Basis jeder Interkulturellen Arbeit. In der Sensibilisierungsarbeit und Vermittlung von spezifischen Erfahrungen und Sichtweisen wird es zunehmend wichtiger, Migrant_innen zu qualifizieren und sie als migrantische Referent_ innen bzw. Multiplikator_innen einzusetzen.

Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen

In Sachsen haben Kirchengemeinden an einigen Standorten eine organisatorische Rolle in der Flüchtlingsproblematik übernommen. Diese Kirchengemeinden sind für jede Form der Unterstützung dankbar. Und es wäre doch fair, diese Gemeinden zu unterstützen – angesichts der Tatsache, dass die Kirche durch ihre Förderinstitutionen „einiges“ von der Bildungsarbeit der entwicklungspolitischen Vereine trägt.

Darüber hinaus sind neue innovative Formen zivilgesellschaftlichen Engagements sowie schulischer und außerschulischer Vermittlung gefragt, um die Demokratie als Lebensform zu befördern und eine andere gerechte Welt zu ermöglichen.

1 In Schatten der Zitadelle, der Einfluss des Europäischen Migrationsregimens auf Drittstaaten. 2013 Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, medico international, Stiftung PRO ASYL/ Förderverein PRO ASYL

2 Der vorliegende Text bezieht sich vorrangig auf Erfahrungen auf kommunaler und Landesebene.

3 Broun D. 1973 Entwicklungspolitische Bildung im Umbruch.; Decker O., et al. 2010 Die Mitte in der Krise. FES-Berlin

4 Decker O., et al. 2010 Die Mitte in der Krise. FES-Berlin; Videofilm, Flucht in der Sicherheit? von Axel Hemmerling und Johanna Hemkentokrax 

5 Bobbio Norberto. 1996 Liberalismo y Democrácía. Fondo de Cultura Económica. Internet Ausgabe Franja Morada.

Flucht in die Sicherheit MDR
Letzte Änderung am Donnerstag, 21 Mai 2015 23:10

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