Saunders Thesen sind geeignet, (entwicklungs)politische Gewissheiten zu irritieren:
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Landflucht lässt sich nicht aufhalten und das Land profitiert auch davon.
Fast nirgends auf der Welt - so Saunders - gelingt eine existenzsichernde subsistente Lebensweise: Kleinbäuerliche Verhältnisse sind immer solche der Armut am Rande von Hunger und Elend. Die Konsequenz ist die Wanderung in die Städte, die innerhalb von mehreren Generationen und immer nach einem ähnlichen Schema erfolgt. Sind es anfangs Pendler*innen, die nach wie vor das Dorf als ihren Lebensmittelpunkt verstehen, wird die Verbindung zur Stadt immer enger und es entsteht ein unumkehrbarer Prozess, innerhalb dessen schließlich die Familienmitglieder nachgeholt werden und eine dauerhafte Verbindung zur Stadt erfolgt. Innerhalb dieses Prozesses werden nicht nur die migrierten Personen zu urbanen Bewohnern*innen - auch das Dorf wird sukzessive städtischer, nicht zuletzt aufgrund von Rücküberweisungen der neuen Städter, die zum unverzichtbaren Einkommen in den Dörfern geworden sind.
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Slums sind mehr als trostlose Orte der Armut ohne Chance auf Verbesserung.
Über eine Milliarde Menschen muss ihr Leben in Slums auf Müllhalden, ohne (sauberes) Wasser, ohne Toiletten und Gesundheits- oder Sozialversorgung organisieren. Oft werden diese Orte als Endstationen wahrgenommen, aus denen die Bewohner*innen aus eigener Kraft nicht entrinnen können. Mit Bildungsprojekten und Kleinkrediten versucht man, die Not zu lindern. Saunders hingegen argumentiert, dass die Orte bleiben, die Menschen aber wechseln. Die von ihm benannten Ankunftsstädte sind unter anderem das, was gewöhnlicherweise als Slums bezeichnet wird. Er zeigt an Beispielen, wie Menschen die Slums nutzen, um in der Stadt anzukommen. Grundlage einer solchen gelingenden Migration und Urbanisierung sind soziale Netzwerke in den Städten, an die die neuen Stadtbewohner*innen anknüpfen können. Von Saunders so genannte Arrival Cities (Ankunftsstädte) erfüllen diese Funktion: Häufig am Stadtrand gelegen, bieten sie den Ankommenden vergleichsweise preiswerte Möglichkeiten des Lebens, kleinteilige Gewerbeflächen, gute Verkehrsanbindungen, Netzwerke anderer Einwanderer derselben Kultur und nicht zuletzt eine Haltung der Toleranz der ansässigen Stadtbevölkerung. Anfangs meist unter extremen Bedingungen gelingt es ehemaligen Landbewohner*innen, sich mit einer eigenen Unterkunft und einer Geschäftsgründung dauerhaft in das städtische Leben zu integrieren und auch Familienangehörige nachzuholen. Saunders zeigt auch, dass es Städte beziehungsweise Slums gibt, die die Funktion der Ankunftsstadt nicht erfüllen, was eine Abwärtsspirale von Gewalt und Armut zur Folge hat. Die erfolgreichsten der Neu-Städter*innen ziehen schließlich von den Ankunftsstädten in Mittelschichtsviertel und erbringen damit den Beweis einer gelungenen urbanen Integration, während sie wiederum Platz für neu Ankommende machen. Unklar bleibt allerdings, wie viele der Neuankömmlinge den Aufstieg in der Stadt und wie viele doch in den Slums hängen bleiben.
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Entwicklungsgelder und Investitionen in Ankunftsstädte sind sinnvoller als die Unterstützung ländlicher Entwicklung in Dörfern.
Die Schaffung von Infrastruktur (gute Schulen, Mobilitätsanbindung ans Zentrum, Wasser, Strom etc.) sorgen dafür, dass die Ankunftsstädte nicht Schauplätze von Gewalt und Konflikten werden, sondern Menschen bei ihren Ambitionen unterstützt werden. An dieser Stelle spricht sich Saunders deutlich dafür aus, die Ankunftsstadt nicht sich selbst zu überlassen und politisch zu intervenieren. Die Ermöglichung guter Ausbildung und wirtschaftlicher Tätigkeit sowie Infrastruktur sind dabei wichtiger als Sozialarbeit.1
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Migration aus dem Globalen Süden in die Metropolen des Nordens lässt sich nicht dauerhaft verhindern.
Auch die Migration nach Europa konzipiert Saunders als Migration aus ländlichen Regionen in die Metropolen (abgesehen von Flucht vor Krieg und Gewalt). Diese Migration lässt sich nicht aufhalten: So endeten Versuche, Einwanderung aus Lateinamerika in die USA zu kontrollieren mit Wellen neuer legaler und illegaler Migration und Massenamnestien – nicht zuletzt auf Druck der Agrarindustrie, die billige Arbeitskräfte benötigt. Auch Europa wird laut Saunders bis 2050 80 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte (vor allem Geringqualifizierte) benötigen. Dies steht im starken Gegensatz zur aktuellen Politik, die Migration auf Hochqualifizierte beschränken will und andere Migrant*innen aus Europa fernhalten will – unter anderem indem Entwicklungszusammenarbeit mit Regierungen in afrikanischen Ländern an die Mitarbeit bei der Verhinderung von Migration geknüpft wird.2
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Die Städte in der BRD sind nicht gut als Ankunftsstädte aufgestellt.
Es fehlt an günstigem Wohn- und Gewerberäumen sowie an Aufstiegsmöglichkeiten für Migrant*innen. Eher informelle Gewerbe sind kaum geduldet. Der Frage der Ankunftsstädte in der BRD hat sich das Deutsche Architekturmuseum in Kooperation mit Saunders übrigens im Rahmen der Architekturbiennale gewidmet – mit spannenden Beispielen.3
Sauders Thesen sind erfrischend, gestehen sie doch den subjektiven Entscheidungen von Menschen einen zentralen Stellenwert in der politischen Analyse zu. Sie ähneln so der Argumentation der Verfechter*innen der „Autonomie der Migration“ vor etwa zehn Jahren.4 Aus unserer Sicht ist eine Lektüre von „Arrival Cities“ inspirierend, verlangt jedoch gleichzeitig nach einer Auseinandersetzung mit seinem liberalen Wirtschaftsverständnis. Denn „Ankunft“ in seinem Sinne funktioniert nur innerhalb des kapitalistischen Wachstumsparadigmas.
Beispielsweise sind nach Saunders' Argumentation Entwicklungsprojekte zur Unterstützung von Kleinbäuer*innen überflüssig. Er argumentiert für eine marktorientierte, großflächige, effiziente Landwirtschaft zur Versorgung der Städte. Diese Vision können wir nicht teilen, stellen wir uns doch eher eine kleinteilige, ökologisch verträgliche Landwirtschaft vor. Saunders nimmt die aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Landwirtschaft und das Land-Stadt-Verhältnis, das auf Ausbeutung der Landwirt*innen beruht, als gegeben hin. Das Scheitern einer bäuerlichen oder subsistenten Lebensweise wird als quasi naturgesetzlich dargestellt. Er hat keine Zukunftsvision gerechter und ökologischer Lebensverhältnisse.
Dennoch ist der Denkanstoß, den Prozess der Verstädterung als solchen anzunehmen und zu gestalten – statt ihn aufhalten zu wollen, ein positiver. Auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit ist es sinnvoll, die Menschen in den Dörfern mit ihrer Entscheidung gehen zu wollen, ernst nehmen und Perspektiven in der Ankunftsstadt zu entwickeln.
Saunders sieht die Gewinner, die die Ankunftsstadt nutzen und hinter sich lassen. Positiv dabei ist, dass er die Menschen in den Slums nicht als passiv und hilfsbedürftig wahrnimmt. Die Kehrseite ist jedoch, dass er keinen Blick für die hat, die es nicht schaffen und politischer oder sozialer Unterstützung bedürfen. Nicht soziale Gerechtigkeit ist Leitlinie seiner Ausführungen, sondern eine modernisierungstheoretische Argumentation: Fortschritt sickert nach unten durch. Er problematisiert es nicht, dass derjenige, der es schafft, ein Gewerbe zu eröffnen, andere Migranten wiederum zu unmenschlichen Bedingungen beschäftigt. Sie können ja in der Zukunft selbst ihre Chance nutzen. Und so regte sich bei uns während des Lesens immer wieder der Widerstand: „Das ist doch nicht die Gesellschaft, die wir uns wünschen ...“ Fazit: Inspirierend, aber als Einschlaflektüre ungeeignet.
1Es ist nicht so, dass entwicklungspolitische Akteure keine Projekte in den Ankunftsstädten haben. Gleichzeitig zielen viele Entwicklungsprojekte nach wie vor auf Verhinderung der Landflucht – eine Strategie, die nach Saunders nicht aufgeht.
2http://www.globaleverantwortung.at/images/doku/migration-und-entwicklung.pdf (letzter Aufruf: 8.8.2016), S. 3
3http://www.dam-online.de/uploads/160310_MakingHeimat_Pressemappe_DE.pdf (letzter Aufruf: 3.8.2016)
4http://www.kanak-attak.de/ka/text/papers.html, (letzter Aufruf: 8.8.2016)