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Das Schiff „Lifeline“, das Herzstück des Seenotrettungsvereins Mission Lifeline aus Dresden, schaukelt sanft im Hafenbecken auf Malta. „Die alte Lady“, wie Maschinist Moje sie liebevoll nennt, ist mehr als nur ein Schiff. Sie verkörpert Hoffnung und Leben, für viele in Seenot geratene Flüchtende auf einer der gefährlichsten Fluchtrouten Europas  - dem Mittelmeer. 

Gegründet hat sich der Verein im April 2016, nachdem die Fluchtroute über den „Balkan“ durch den EU-Türkei Deal geschlossen wurde. Seitdem versuchen tausende Menschen über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, vor Hunger, Verfolgung, Krieg und Folter. Mehr als 7500 Menschen haben seither ihr Leben im Mittelmeer gelassen. Einige zivile Seenotrettungsorganisationen versuchen dem Sterben entgegenzutreten, indem sie mit ihren Schiffen in der Such- und Rettungszone vor der libyschen Küste operieren.

Seit September 2017 ist nun auch die „Lifeline“ von Mission Lifeline aktiv vor Ort. Der Verein setzt da an, wo die Politik versagt. „Das Suchgebiet ist riesig. Die meisten Tragödien auf dem Mittelmeer geschehen, ohne dass dies bekannt wird. Ein zusätzliches Schiff auf den Weg zu bringen, lag auf der Hand. Dabei zusehen, wie die europäischen Staaten willentlich Menschen ertrinken lassen, können wir nicht. Wenn der Staat zum Mörder wird, ist die Zivilgesellschaft gefragt.“, erklärt Pressesprecher Axel Steier.

Rettung in letzter Sekunde

Folter, Vergewaltigung und sogar willkürliche Hinrichtungen: Von all dem berichten Geflüchtete aus Libyen. 

Ein sinkendes, überfülltes Schlauchboot auf dem Mittelmeer: Private Hilfsorganisationen retten die Geflüchteten und ziehen sie an Bord ihres Schiffes. Szenen, die sich in den vergangenen Jahren fast täglich wiederholten.

Seit dem Sturz von Machthaber Gaddafi versinkt das Land im Chaos, unterschiedliche Milizen ringen um die Macht. Längst gilt Libyen als gescheiterter Staat. Frauen werden vergewaltigt, Familien getrennt, Menschen wie Sklaven behandelt. Bis zu einer Million Geflüchtete sollen sich in Libyen aufhalten. Die Verzweiflung der Rechtlosen - das ist es, was die Menschen auf die wackligen Boote Richtung Europa steigen lässt. Der Funken Hoffnung, die Fahrt zu überleben - und dem Elend in Libyen zu entkommen.

Und was sagt die Politik?

Europäische Solidarität hat sich als ein Wunschdenken erwiesen, Ergebnisse davon sind der EU-Türkei-Deal, der Verhaltenskodex für NGOs von der italienischen Regierung und die Externalisierung der Außengrenzen durch finanzielle „Kooperation“ mit afrikanischen Staaten, insbesondere mit Libyen. 

Italien, das von der EU unterstützt wird, kooperiert mit der Libyschen Küstenwache, um private Rettungsorganisation an der Rettung von Menschenleben zu hindern. Der Vorwurf an die Hilfsorganisationen: Ihr Einsatz vor der Küste Libyens animiere die Schleuser, nur noch mehr Fliehende auf noch wackligere Boote zu setzen. Damit ist jetzt Schluss: Libyens Küstenwache erweiterte ihren Einsatz auch über die Zwölf-Meilen-Zone hinaus und sagte den Hilfsorganisationen den Kampf an. Die Mär der Sogwirkung wurde zwar in zahlreichen Studien widerlegt und dennoch wird die Arbeit von NGOs im Mittelmeer weiterhin massiv behindert. Seenotrettungsvereine werden kriminalisiert und sind willkürlichen Übergriffen von Milizen und der libyschen Küstenwache ausgesetzt.

Doch der Deal, den Italien mit Libyen geschlossen hat, ist für Europa attraktiv. Die Rechnung ist makaber und plausibel zugleich: Retten europäische Hilfsorganisationen Geflüchtete, unterliegen sie dem non-refoulement-Prinzip und können die Menschen gemäß internationalem Recht nicht nach Libyen zurückbringen. Es wird offenbar davon ausgegangen, dass Libyen selbst nicht diesem Prinzip unterliegt, obwohl dies strittig ist. Die Libyschen Küstenwachen sind einzelne Milizen, die versuchen geflüchtete Menschen auf dem Mittelmeer abzufangen und diese zurück nach Libyen zu schaffen. Dass dies für die Sponsoren - also Italien und die EU - bedeuten könnte, an einer Völkerrechtsverletzung mitzuwirken, wird häufig übersehen. Anwälte bereiten schon jetzt Schadensersatzforderungen gegen Italien vor. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wurden allein in diesem Jahr schon 12.000 Menschen auf diesem Wege zurück nach Libyen gebracht - das sind alles Fälle, um die sich Europa nicht kümmern muss.

Die einzigen, die von diesen militaristischen Maßnahmen profitieren werden, sind Schmugglernetzwerke, weil die Menschen in ihrer Verzweiflung nur Schmuggler in Anspruch nehmen können, um Ländergrenzen zu passieren. Die Maßnahmen der Abschottung führen nur zu einem: Menschen nehmen immer riskantere Fluchtrouten auf sich, Schmugglernetzwerke profitieren und noch mehr Menschen sterben.

Mit dieser Politik wird das Fluchtelend nicht bekämpft, es wird nur verlagert an Orte, an denen keine Kameras vorbei kommen - weitere Bilder von toten Kindern an europäischen Stränden werden damit vielleicht verhindert, aber dieselben Kinder sterben vorher in libyschen Lagern, in der Wüste oder im Mittelmeer. 

Dabei ist das Recht auf ein Asylverfahren essentieller Bestandteil des Rechts auf Schutz vor Verfolgung oder auch vor Folter oder unmenschlicher Behandlung - dieser Zugang wird aber mit den derzeitigen Entwicklungen verwehrt. 

Die Festungsmauer Europas

Das Mittelmeer – eine weitere Grenze die in Vergessenheit gerät.

Trotz des zunehmend schlechteren Wetters, legt erneut ein Stück Hoffnung vom Hafen auf Malta ab – die „Lifeline“. Es weht rauer Wind, nicht nur wetterbedingt, sondern auch aus politischer Richtung. Der Verein Mission Lifeline wird dennoch weiterhin denen das Leben retten, die von der Politik vergessen werden – Menschen die eine kleine Hoffnung nach einem Leben fernab von Misshandlung, Folter und Hinrichtung haben.

Und so schwankt die „alte Lady – die Lifeline“ nur mit privaten Spenden im Süden des Mittelmeeres, in einer der tödlichsten Zonen der Welt.


 


www.mission-lifeline.de

 


 

Milch ist in jedem Haushalt zu finden, ob als Butter, Joghurt oder in Schokolade. Ihre Werbung weckt gern Klischee­bilder: Weidende Kühe auf grünen Wiesen; Landleben, Dorfleben, Idylle. Der Besuch eines konventionellen Milchviehhofs ist da meist ernüchternd. Kühe auf die Weide zu treiben, rechnet sich bei den heute oft drei- bis vierstelligen Herden größerer Betriebe nicht. In nur drei Jahren müssen die Tiere die Kosten ihrer zweijährigen Aufzucht durch möglichst hohe Milchmengen einfahren. Das ist ihre „Existenzberechtigung“, denn zwei Drittel des dafür nötigen teuren Kraftfutters enthalten Mais und Soja, oft aus Südamerika importiert. Dieser Leistungsdruck zehrt die Tiere körperlich schnell aus, und im Alter von vier bis fünf Jahren landen sie in der Regel als unrentabel beim Schlachter.1 Aufgrund anhaltenden Preisverfalls für Rohmilch haben seit 2015 bundesweit über 4.000 Milchhöfe aufgegeben. Es gab Prämien für Betriebe, die Kühe abgeschafft und weniger Milch zur Molkerei lieferten. Auch deshalb stiegen 2017 die Milchpreise wieder leicht auf ein Niveau, auf dem zumindest größere Milchhöfe existieren können.

Übrig bleiben statt Bauernhöfen immer mehr Agrarfirmen, die die ertragreichsten Kühe aufgegebener Betriebe ankaufen. Von oft fernen Firmensitzen aus bewirtschaften solche Unternehmen immer größere Flächen. Die Verantwortung für Boden, Vieh und Landschaft liegt damit immer häufiger in Büros weit weg vom Produktionsort. So werden ein Fünftel der Agrarflächen in Nordsachsen und um Bautzen bereits von überregionalen Unternehmen kontrolliert.2 „Das Wort ‚Dorf‘ müssen wir neu erfinden“, so ein Rentner aus der Oberlausitz, „denn mit dem Landleben aus Magazinen, mit Bauernhof usw. hat das nichts mehr zu tun.“ Arbeiteten viele Landbewohner früher in LPGs, seien einige wenige von ihnen heute Lohnarbeiter einer Agrar­industrie, deren Arbeitsweise von Weltmarkt-Trends bestimmt wird. Das haben auch sächsische Landbewohner zunehmend gemeinsam mit Bauernfamilien in ärmeren Ländern des globalen Südens, wo die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land lebt. Ihre kleinbäuerliche Art zu wirtschaften gerät hier wie dort unter den Druck der Prioritäten global operierender Nahrungsmittelkonzerne.

Adama Diallo, Milchbauer und Verbandsleiter der Kleinmolkereien in seiner Heimat Burkina Faso, sitzt nachdenklich in einem der technisch modernsten Milchviehbetriebe Ost­deutschlands. Dessen Ausrichtung auf maximale Effizienz für knapp 3.000 Milchkühe, Kälber und Rinder kann im Vergleich zu Westafrika beeindrucken, gibt Diallo zu. Doch: „Was ist, wenn die Chinesen, dank viel größerer Betriebe, demnächst Europa mit Billigmilch überschwemmen?“

Abwegig ist diese Sorge nicht, und dabei geht es derzeit nicht um Frischmilch. Die hat nur einen geringen Anteil am Umsatz mit Milchprodukten.3 Längst sind europäische Milchkonzerne Großaktionäre gigantischer Molkereien in Fernost, sichern sich Wachstums­märkte von Südamerika bis China und erweitern ihre weltweiten Handelsbeziehungen. Bis 2022 wird Chinas Bedarf an Milchprodukten voraussichtlich um 37 Prozent wachsen, schneller als die Kapazitäten einheimischer Milchviehhöfe.4 Das führt zu absehbar lukrativen Absatzchancen für Milch-Überschüsse auch aus Europa. Ein neuer Joghurt-Trend oder gestiegene Butterimporte in China können sich darauf auswirken, wie eine Molkerei in Sachsen ihre Milch verarbeitet, wie hier Kühe ernährt oder Milchaktien gehandelt werden. An der europaweit führenden Leipziger Energiebörse EEX lassen sich solche Entwicklungen tagesaktuell verfolgen. Weltmarkt-Trends entscheiden mit, ob Schiffsladungen an EU-Magermilchpulver nach Brasilien oder Nigeria gehen. Immer mehr bestimmen international operierende Supermarktketten und Lebensmittelkonzerne, woher unsere Nahrungsmittel kommen. Es ist schwer, einen Wocheneinkauf zu tätigen, wenn man genauer wissen will, woher die Produkte kommen.

Auch Molkereien sind nur noch Bausteine in einem komplizierten internationalen Handelssystem, das den Tagespreis für Rohmilch mitbestimmt. Adama Diallo registrierte bei seinen Besuchen auf Milchhöfen vom Allgäu bis Thüringen im Grundsatz dieselben Marktmechanismen wie in Westafrika, die Druck auf die Milchbauern ausüben. Auch in Burkina Faso, berichtete er, kauften europäische Konzerne Molkereien auf oder bauten neue, deren Auslastung mehr Milch erfordert als die Viehzüchter des Umlands liefern können. Afrikas Milchbauern erhielten allerdings keine staatlichen Fördermittel.

Direktzahlungen im Bereich Landwirtschaft sind der größte Budgetposten im EU-Haushalt. Davon profitieren große Molkereien und Agrarfirmen, weniger bäuerliche Familienbetriebe. Sechs Großmolkereien gehörten 2016 zu den zehn Spitzenempfängern von EU-Mitteln. Eine davon ist das Sachsenmilch-Werk in Leppersdorf, direkt an der Autobahn A4. Laut Standortgemeinde wurde es zur größten Milchfabrik Europas ausgebaut, seinen Energiehunger stillt ein eigenes Kraftwerk. Auch hier ist Globalisierung wirksam: Die Flasche Sachsenmilch ist laut Etikett „in Bayern mit Milch aus Deutschland und Österreich“ hergestellt, denn die GmbH gehört der früher bayerischen Unternehmensgruppe Theo Müller. Die Marke ist sächsisch, die Rohmilch für den Inhalt aber könnte aus Tirol oder Ostfriesland sein. Auch „Thüringer Land“ Milchprodukte kommen aus Bayern. Lastwagen, die Milch umweltbelastend quer durch Deutschland fahren, sind die Norm, nicht die Ausnahme.

Die Globalisierung unserer Ernährung verändert auch die deutsche Landwirtschaft, deren Umsatz von der Milchwirtschaft dominiert wird. In diesem Sektor ist Deutschland Europameister; jeder zweite Liter Milch deutscher Kühe wird exportiert, meistens in EU-Länder in Form von Milch- und Molkepulver. Das liegt auch daran, dass wir so viel Butter, Käse, Sahne usw. gar nicht verbrauchen können wie unsere Molkereien herstellen. Diese haben trotz der jahrelangen Mengenbegrenzung durch die 2015 abgeschaffte EU-Milchquote längst ihre Produktionskapazitäten ausgebaut, weil sie nur so ihre Wachstumsziele erreichen. Was passiert dann mit den Überschüssen an Milch? Ein Teil wird, auch mit Steuermitteln, in Pulverform eingelagert.5 Trotz des hohen Energieverbrauchs für die Herstellung von Milchpulver rechnet sich der Aufwand für die Industrie. Milch- und Molkepulver lassen sich ohne Kühlkette einfach transportieren und lagern. Kann in Westafrika oder China eine neue Großmolkerei mengenmäßig mehr Milchprodukte herstellen als einheimische Milchhöfe ihr Rohmilch liefern, hilft Milchpulver aus dem Welthandel, die Bedarfslücke zu schließen.6

Da die Nachfrage nach Rohmilch für den Markt in Europa und Nordamerika in absehbarer Zeit nicht steigen wird, orientiert sich die Lebens­mittel­industrie dorthin, wo eine wachsende Zahl von Menschen allmählich immer mehr solcher Erzeugnisse konsumieren, vor allem in Asien und Afrika. Das liegt nur zum Teil am leicht steigenden Wohlstand in einigen Armutsgebieten. In vielen sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern sind Joghurt und Milch ein Modetrend und heute für einen wachsenden Teil der Menschen erschwinglicher als vor 10 Jahren. Das liegt auch an Preisentwicklungen: Importiertes Milchpulver internationaler Konzerne wird – umgerechnet auf den Liter angerührte Milch – deutlich billiger angeboten als einheimische Frischmilch. Das Magermilchpulver wird, um wenigstens im Fettgehalt gegenüber der Frischmilch mitzuhalten, dafür immer häufiger mit Pflanzenfett gestreckt. Werbekampagnen etwa im Senegal preisen Milchprodukte für Kinderwachstum an, für Leistungsfähigkeit und Gesundheit. Wo Kinder mit Schulmilch versorgt werden, steigt erfahrungsgemäß auch der Milchkonsum ihrer Familien.

Steigende Nachfrage bietet also – theoretisch – Marktchancen für erfahrene lokale Viehzuchtfamilien – eine Stärke armer westafrikanischer Länder. Trotz widriger Bedingungen gäbe es Anreize, mehr Milch an Molkereien zu liefern und die Kühe diesem Bedarf entsprechend zu halten. Ihre Regierungen könnten durch temporäre Schutzzölle auf Milch- und Molkepulver der lokalen Milchwirtschaft Zeit geben, ihre Produktivität auszubauen. Der langfristige Blick auf landwirtschaftliche Erträge im Vergleich zum Bevölkerungswachstum beweist, weches Potential es hierfür gibt. Trotz systematischer Vernachlässigung durch Regierungen steigerte die Landwirtschaft in vielen Teilen Subsahara-Afrikas ihre Nahrungsproduktion seit Jahrzehnten schneller als die Einwohnerzahl wuchs. 7

In Westafrika sind Millionen Familien traditionell Viehzüchter, die mit häufigeren Dürren und Verknappung von Weideland zu kämpfen haben. Ein wachsender Milchmarkt könnte neue Chancen auf Einkommen eröffnen. Auch in Adama Diallos Heimat haben Frischmilch und Joghurt das Zeug, zur Armutsbekämpfung und gegen Mangelernährung wirksam beizutragen. Diallos Verband vertritt viele Kleinst­molkereien, die auf dem Land, ohne Anschluss ans Stromnetz und mit einfachsten Mitteln gekühlte Milch und Joghurt anbieten. Mit Hilfe von Solarstrom und Gaskühlboxen, und fortgebildet von einheimischen Fachleuten, sichert der Verkauf in den Dörfern vor allem Frauen ein Einkommen. Traditionell gehören die Herden beim Stamm der Peulh den Männern, die Milch aber den Frauen. Über 40 solcher Kleinstmolkereien betreut eine lokale Organisation mit Unterstützung des deutschen Hilfswerks MISEREOR. Im Verbund mit anderen Maßnahmen, etwa zur Tiergesundheit, tragen die Molkereien zu gesunder Ernährung und besserer Schulbildung bei und helfen indirekt, jungen Leuten Alternativen zur Abwanderung in die Großstädte oder ins Ausland zu bieten. In Burkina Faso ist die Hälfte der Bevölkerung unter 18 Jahre alt, und für die wenigsten Jugendlichen gibt es Arbeitsplätze.

Doch der weltweite Handel mit Milchpulver macht auch vor Westafrika nicht Halt und ruiniert die Chancen der lokalen bäuerlichen Milchwirtschaft. Wenn die Milch ihrer eigenen Kühe schon heute mehr Menschen versorgen kann, fragen sich die Menschen, warum lässt die Regierung tonnen­weise EU-Magermilchpulver fast zollfrei ins Land? (S. 17). Abgefüllt in Dosen oder handliche Portionstüten, kostet der Liter angerührte Pulvermilch aus Importen umgerechnet nur die Hälfte des Preises lokaler Frischmilch. Damit können einheimische Bauern nicht konkurrieren.

Im Schatten von 15 Jahren zäher Verhandlungen über neue EU-Afrika Wirtschaftsabkommen (siehe S. 21) schufen sich transnationale Lebensmittelkonzerne überall die Voraussetzungen für neue Absatzmärkte. Die erklärten EU-Verhandlungsziele der Armutsbekämpfung und Stärkung lokaler Wett­bewerbs­fähigkeit gegenüber der Konkurrenz aus dem Weltmarkt blieben dabei auf der Strecke (S.22 ). Lieferketten selbst gekühlter Milchprodukte aus der EU reichen direkt bis in den Senegal und seine Nachbarländer. Auch so werden die Verflechtungen einer globalen Industrie greifbar, auf Kosten von Landwirten hier wie dort.

1 Zum Vergleich: Milchkühe auf den 23 sächsischen Demeter-Biohöfen dürfen auch über 15 Jahre alt werden und liefern etwa fünfmal so lange Milch wie Hochleistungskühe in Großbetrieben.

2 Stefan Sauer, „Landwirtschaft in Deutschland Bauernhöfe sterben, Agrarkonzerne wachsen“, Berliner Zeitung, 26.5.2017

3Laut Deutschem Milchindustrie-Verband wurden 2016 von der an deutsche Molkereien gelieferten Rohmilch nur gut 15 % zu sog. Konsummilch verarbeitet. Das meiste entfiel auf Käse, Butter, Joghurt, Sahne, Magermilchpulver, Milchmisch- und andere Produkte.
Von ersten EU-Frischmilchexporten nach China berichtete die BBC am 31.10.2017.

4 Bloomberg News, “China Dairy Giants Shake off Scandal To Become Blue Chips,” 16.10.2017.

5 Im August 2017 hatte die EU die seit 20 Jahren größte Menge Magermilchpulver eingelagert: 358.000 Tonnen. Deutsche Verkehrs-Zeitung, „Der Pulverberg“, 4.8.2017.

6Laut Medienberichten sind von Januar bis August 2017 die Exporte von EU-Magermilchpulver um 43 Prozent gestiegen. Josef Koch, „Milchpreise haben noch Luft nach oben,“ agrarheute.com, 18.10.2017.

7Einschränkend sei erwähnt, dass schwache Infrastrukturen die regionale Versorgungslage dann leider oft erheblich erschweren.

Der Leipziger Verein Orang-Utans in Not (www.orang-utans-in-not.org) hat sich den Schutz der letzten freilebenden Menschenaffen auf Borneo und Sumatra zum Ziel gesetzt. Deren Lebensraum wird für Palmölplantagen abgeholzt. Doch Orang-Utan-Schutz bedeutet auch Menschenrechts- und Klimaschutz, denn die Regenwaldzerstörung hat Auswirkungen auf uns alle.


Bedrohte Waldmenschen

Die südostasiatischen Inseln Borneo und Sumatra beherbergen nicht nur die artenreichsten Regenwälder der Erde. Zu ihren Bewohnern gehört auch der einzige asiatische Menschenaffe, der Orang-Utan.

Orang-Utan bedeutet „Waldmensch“ und in der indonesischen Überlieferung heißt es, dass die Waldmenschen eigentlich sprechen können, dies aber nicht tun, damit sie nicht arbeiten müssen.

Heute wissen, wir, dass dem nicht so ist. Orang-Utans brauchen wie so viele Tier- und Pflanzenarten menschliche Fürsprecher. Ansonsten sind sie verloren, denn ihr Lebensraum wird zerstört. Der Hauptgrund dafür sind derzeit riesige Palmölmonokulturen.

Orang-Utans (Pongo pygmaeus) zählen mit den Schimpansen, Bonobos und Gorillas zu den Menschenaffen und damit zu unseren nächsten Verwandten. Ihr Erbgut ist zu rund 97% mit dem unseren identisch. Die intelligenten und faszinierenden Tiere werden auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten geführt.

Palmöl – eine Katastrophe für Mensch und Tier

Pro Stunde (!) wird weltweit Regenwald einer Fläche von 300 Fußballfeldern allein für Palmöl vernichtet1. Davon sind nicht nur die pflanzlichen und tierischen Bewohner des Regenwaldes betroffen. Menschen werden brutal von ihrem Land vertrieben. Arbeiter*innen und Kinder müssen unter teils sklavereiähnlichen Bedingungen auf den Plantagen schuften. Im Jahr 2016 veröffentlichte Amnesty International eine Studie, die Ausbeutung auf indonesischen (teils als „nachhaltig“ zertifizierten) Palmölplantagen anprangert2. Ein sehr empfehlenswertes Video zu dieser Studie („Fruits of Their Labour“) ist über YouTube zugänglich.

Das mag alles sehr weit weg erscheinen. Doch auch uns, die wir „am anderen Ende der Welt“ leben, betrifft die Regenwaldabholzung. Denn aus den freigelegten Torfböden entweichen gigantische Mengen Kohlenstoff in die Atmosphäre und befeuern den Klimawandel. Hinzu kommen Brandrodungen, die jedes Jahr weite Teile Südostasiens über Wochen in giftigen Rauch hüllen.

Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, enthält Palmöl obendrein im Vergleich zu anderen Pflanzenölen den höchsten Anteil an potentiell krebserregenden und erbgutschädigenden Substanzen3

Die Ölpalme (Elaeis guineensis) stammt ursprünglich aus Westafrika, breitet sich jedoch als Monokultur derzeit weltweit im tropischen Gürtel aus. Die Einzelfrüchte sind pflaumengroß. Bis zu 1.500 Früchte wachsen an einem Fruchtbündel (20-50 kg).

Die Ölpalme ist die ertragreichste Ölpflanze der Welt. Der Flächenertrag liegt beim 4,5-Fachen von Raps und sogar dem 8-Fachen von Soja4. Dies und Niedriglöhne machen Palmöl zum billigsten Pflanzenöl weltweit. Und deshalb ist es in 50% der von uns konsumierten Supermarktprodukte enthalten (z.B. in Lebensmitteln, Kerzen, Kosmetika und Waschmitteln). Auch im sogenannten Biodiesel und in Blockheizkraftwerken findet der „nachwachsende Rohstoff“ Verwendung, leider ohne den Treibhausgasausstoß zu berücksichtigen, der durch die Regenwaldabholzung verursacht wird.

Hilfe vor Ort – und Aufklärung in Deutschland

Natürlich kümmert sich unser Verein – wie es der Name schon sagt – in erster Linie um die Orang-Utans in Not. Doch wir tun dies mit einem ganzheitlichen Ansatz. Neben der Ko-Finanzierung von Auffang- und Auswilderungsstationen beinhaltet dieser Ansatz auch die Aufforstung geschädigten Regenwaldes. Und gemeinsam mit der indonesischen Organisation Yayorin bieten wir auf Borneo Umweltbildung für Kinder und Schulungen zu alternativen Anbaumethoden für Erwachsene an, um den dortigen Regenwald langfristig zu schützen.

Im Raum Leipzig veranstalten wir regelmäßig Projekttage und -wochen zu den Themen Menschenaffen, Regenwald und Palmöl an Schulen und Kindergärten.

Denn letztendlich entscheidet unser Konsum, wieviel Palmöl nach Deutschland importiert wird. Weiterhin gehört unser Verein zu den Gründern und Trägern des Aktionsbündnisses Regenwald statt Palmöl (www.regenwald-statt-palmoel.de). Das Bündnis vereint derzeit rund 20 Organisationen, die sich für Naturschutz und Menschenrechte einsetzen. Hier suchen wir weitere Verbündete, um die Thematik noch bekannter zu machen und um eine Kampagne für die Reduzierung von Palmöl im deutschsprachigen Raum zu starten.

Im Juli diesen Jahres reiste ich nach Borneo, um unsere dortigen Projekte zu besuchen und Spendengelder zu übergeben. Begleitet wurde ich von einem Kamerateam, das für einen Film zur Verleihung der „Goldenen Bild der Frau“ drehte. Der Preis wird jedes Jahr an fünf ehrenamtlich engagierte Frauen vergeben und ist mit einer Spende von jeweils 10.000 Euro dotiert. Man bewirbt sich nicht für diese Auszeichnung und so kam die Benachrichtigung im Frühjahr für uns ganz überraschend. Bis zur Verleihung im Oktober sind einige Termine zu absolvieren, darunter auch ein „Photo shooting“ mit Starfotografin Gabo in Hamburg, bei dem sich die Preisträgerinnen zum ersten Mal trafen. Ein Ausflug in eine andere Welt, ungewohnt aber interessant zum Reinschnuppern.

Unserem Verein hat der Preis mehr Sichtbarkeit beschert, sowohl in den sozialen Medien als auch in den Printmedien und im Fernsehen. Damit konnten wir mehr Menschen für das wichtige Thema Palmöl sensibilisieren und für die Verknüpfungen, die zwischen unserem Konsumverhalten und der Regenwaldabholzung im globalen Süden sowie dem Klimawandel bestehen. Natürlich gab es bei den einzelnen Redaktionen Präferenzen für bestimmte Themenschwerpunkte. Wir hatten aber nie den Eindruck, dass unangenehme Fakten ausgeblendet werden sollten. Mir ganz persönlich hat es gutgetan, mich mit den anderen Preisträgerinnen auszutauschen. Auch wenn wir uns in ganz verschiedenen Bereichen engagieren, ist uns doch eines gemeinsam: Wir wissen, dass man diese Welt besser machen kann. Und dass Aufgeben für uns keine Option ist.

Jeder kann etwas tun

Die Orang-Utans stehen nicht nur für die unzähligen Tier- und Pflanzenarten, die der Regenwaldrodung zum Opfer fallen. Sie stehen auch für die Menschen, die von ihrem Land vertrieben werden oder unter teils menschenunwürdigen Bedingungen auf Plantagen arbeiten müssen. Und die Orang-Utans stehen letztendlich für uns alle, denn die Regenwaldrodung befeuert den Klimawandel. Wenn wir es also schaffen, die tropischen Regenwälder zu schützen, dann retten wir nicht alleine die Orang-Utans, dann retten wir auch uns selbst.

Jeder kann etwas dafür tun, sei es durch bewussten Konsum, die Teilnahme an Petitionen, das Kontaktieren von Herstellern und Händlern oder durch Engagement in bestehenden Vereinen. Und gemeinsam können wir etwas bewegen.

 

 

1Langbein, Kurt (2015) Landraub: Die globale Jagd nach Ackerland. Ecowin-Verlage

2 Amnesty International (2016) The great palm oil scandal. Labour abuses behind big brand names. Amnesty International.https://www.amnesty.org/en/documents/asa21/5184/2016/en

3European Food Safety Authority (2016) Prozesskontaminanten in Pflanzenölen und Lebensmitteln. EFSA-Nachrichten 3. Mai 2016. http://www.efsa.europa.eu/de/press/news/160503aandere

4WWF Deutschland (2016) Auf der Ölspur ─ Berechnungen zu einer palmölfreieren Welt. WWF Deutschland. https://www.wwf.de/fileadmin/fm-wwf/Publikationen-PDF/WWF-Studie_Auf_der_OElspur.pdf


 

Hinter dem AfD-Wahlerfolg stecken Entwurzelung und
Sinnleere, der mit politischer Kosmetik nicht beizukommen
sein wird

 

Bis auf die immer Unerreichbaren haben es doch so gut wie alle im Gefühl: Das war am 24.September nicht einfach eine übliche fällige Bundestagswahl! Demokratische Routine auf Bundesebene sozusagen. Sitzen jetzt halt sieben Parteien im Bundestag, wenn man den Eitelkeiten der Bayerischen CSU Rechnung tragen will, die es am liebsten hätte, wenn die Restbundesrepublik dem Freistaat beitreten würde. Nicht nur die zuvor noch nie so da gewesene Kräftekonstellation unter den Bundestagsfraktionen signalisiert Besonderes. Der ungeschriebene Artikel Null des Grundgesetzes scheint Koalitionen mit Randparteien von Rechts und Links zu verbieten, also bleibt nur die Jamaika-Option. Wenn man ein Anhänger der Konsensdemokratie ist, kann man das sogar gut finden. Denn jetzt müssen sich politische Gegner für eine Koalitionsvereinbarung zusammenfinden, die sich bislang wie Hund und Katze angeschnauzt oder wie Kaninchen und Schlange belauert haben. Plötzlich müssen sie miteinander darüber reden, was wirklich für das Wohl des Landes gut wäre.

Aber um ein Land, um ein Deutsch-Land ging es bei dieser Wahl nur bedingt. Wenn der Blitzerfolg der erst um die Zeit der vorigen Bundestagswahl gegründeten AfD zu etwas taugt, dann zur Veranschaulichung, wie sehr einerseits dieses Deutschland gespalten ist und wie sehr andererseits die Zustände auf unserem gesamten Globus in das Wählerempfinden hineinspielen. Denn dies war in erster Linie eine von Emotionen bestimmte Wahl. Der gekränkte und verunsicherte Ossi demonstrierte sein Unbehagen geradezu an der Wahlurne. Und die gesamtdeutsche Abwehrhaltung gegenüber den Fremden, die uns mit ihrer bloßen Präsenz auf unhaltbare Zustände in den zahllosen Problemgebieten dieser gemeinsamen Erde hinweisen, indiziert, dass wir uns diesen Problemen auf Dauer gar nicht werden entziehen können. Gemeinsam ist dieser innenpolitischen und der globalen Komponente des Wahlverhaltens die dahinter aufscheinende ethische und kulturelle Orientierungslosigkeit viel zu vieler Bürger.

Der aussichtslose Aufholprozess Ost

Es hat viele überrascht, dass 27 Jahre nach dem euphorischen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik die nachfolgenden Brüche und Enttäuschungen noch einmal so hochkochen. Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) hat schon lange vor dem einsetzenden Wahlkampf die sensibelste Antenne dafür entwickelt. Bei Gesprächen mit besorgten oder Wutbürgern kehrten die Geschichten aus den 1990-er Jahren immer wieder. Jetzt, da viele der damals tragenden Generation auf die Rente zugehen oder bereits Rente sind, Lebensentwürfe jedenfalls nicht mehr zu korrigieren sind, werden sich viele der lange verdrängten Enttäuschungen erst wirklich bewusst. In Sachsen hat die Ära Biedenkopf einen solchen Gefühlsstau lange unter dem goldenen Mantel des selbstverklärenden Sachsen-Mythos verstecken können. Auch dafür ist die Sächsische Union spät abgestraft worden.

Interessanterweise hat aber nicht die SPD davon profitiert, die sich als neue Kümmererpartei Ost selbst entdeckte und damit die Nachfolge der Linken antreten wollte. Die AfD hat den ostdeutschen Generalfrust kanalisieren können, dessen Ausmaße auch den Journalisten überraschen, der seit drei Jahren Pegida aufs Maul schaut und im Wahlkampf viel an der Basis unterwegs war. Für eine Diagnose muss man zwischen rational benennbaren Ursachen und den darunter liegenden Emotionen unterscheiden. Es gibt eben doch die Wendeverlierer*innen, die nach Verlust ihres Arbeitsplatzes nie wieder Fuß gefasst haben, die für die neue Wolfsgesellschaft nicht die nötige Abgebrühtheit mitbrachten. Es gibt Leute, die die Anpassung äußerlich zwar geschafft haben, aber innerlich leer geworden sind. Es gibt die 17 von der SPD ausgemachten Rentner-Problemgruppen, die rechnerisch klar benachteiligt werden. Eisenbahner oder Bergleute sind bei der Rentenüberleitung schlichtweg vergessen worden. Bei den 300.000 nach DDR-Recht geschiedenen Frauen gibt es hinsichtlich des im Westen üblichen Versorgungsausgleichs einen Konflikt von Rechtsgütern. Auf unabsehbare Zeit werden die Löhne im Osten dem Westen hinterherhinken, vergrößert sich der relative wirtschaftliche Abstand, werden Ossis nicht annähernd über das Vermögen und damit über die Möglichkeiten des Besitzerwerbs wie im Westen verfügen.

Ein namentlich von der CDU unterschätztes Problem verweist sozusagen auf eine entwicklungspolitische Binnenaufgabe. Die Urbanisierung schreitet fort, ländliche Räume, ja Kleinstädte überaltern und entleeren sich. Kapitalismus funktioniert wie das biblische Wort „wer hat, dem wird noch gegeben“, fördert also die Konzentration auf Oberzentren. Der frühere Finanzminister und Ministerpräsident Georg Milbradt beispielsweise hielt Theater in den drei sächsischen Großstädten für völlig ausreichend, weil ja jeder Sachse mit dem Auto binnen einer Stunde in Dresden, Leipzig oder Chemnitz ankommen und Kunst konsumieren könne, wenn er es denn unbedingt brauche. Hier gegenzusteuern, ist eine Aufgabe, die der CDU Sachsen beim ersten Wundenlecken nach dem Wahldebakel allmählich dämmert. Doch eine solche staatliche Aufgabe wäre nur mit einer massiven Umverteilung der Fördermittel zu lösen, die wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der Magneten Leipzig und Dresden beschneiden könnte.

Das ideelle Vakuum nach dem Ende der DDR

Reist man aber auf den Spuren des AfD-Erfolges durch das Lausitzer und niederschlesische Gebiet ihrer Rekordergebnisse von mehr als 40 Prozent, dann werden diese Gründe nicht einmal explizit benannt. Bürger*innen fühlen sich gar nicht so abgehängt, klagen vielleicht über eine schlechte Verkehrsanbindung, aber weniger über die Infrastruktur, müssen nicht nachts unter einer Brücke schlafen. Besonders in Grenznähe sind natürlich einige wütend über den gewerbsmäßigen Autoklau, andere witzeln sarkastisch über ihr Fahrrad, das jetzt irgendwo in Polen rolle. Und obschon im Sorbenland kaum jemand je einen Ausländer, geschweige denn einen Flüchtling gesehen hat, weiß man ja, dass Ausländer Unfrieden stiften. So hat man es jedenfalls über Bautzen gelesen.

Hört man aber länger und aufmerksamer zu, wächst die Erkenntnis, dass die sich bei der CDU abzeichnende Lösungsformel „Mehr Lehrer, mehr Polizisten, weniger Ausländer“ die Meckerei nicht beseitigen wird. Einige der AfD-Hochburgen liegen in Regionen, die sich noch zum erweiterten Speckgürtel von Dresden zählen. Der Grundstückserwerb zum Beispiel spricht dafür. Bürger*innen haben ihr Häuschen und ihr Einkommen und outen sich trotzdem als AfD-Wähler*innen. Warum? Beim Nachbohren fallen dann plötzlich Wendungen wie „gefühltes Unbehagen“ und „da ist so eine Heimatlosigkeit“. Allgemeine Überforderungsgefühle mischen sich mit einer apokalyptischen Grundstimmung. Die Digitalisierung, die nichts anderes ist als eine weitere Runde der Rationalisierung, steht als drohende Wolke am Heimathimmel. Der Informationsflut, die sie mit sich gebracht hat, sind die meisten schon längst nicht mehr gewachsen, vor allem ihrer kritischen Prüfung. Mit ihr erreichen uns auch die Bilder einer von Kriegen zerrissenen und von einem extremen Wohlstandsgefälle schief gezogenen Welt immer eindringlicher. Beim ehemaligen Direktor der Landeszentrale für Politische Bildung Frank Richter kommt der frühere Seelsorger wieder durch, wenn er vom Gefühl spricht, der Teufel sei im wahrsten Wortsinne los. Und dann suchen auch noch die reißenden Wölfe das Land heim!

Zugleich spüren immer mehr Bürger*innen intuitiv, dass dieser empfundene Weltschlamassel uns nicht verschonen wird. Es wird nicht so benannt, aber dass wir in einer Welt leben und gemeinsam für diese verantwortlich sind, dämmert zumindest als Ahnung herauf. Die schlichten Abwehrreaktionen besonders bei Ostdeutschen sind zunächst verständlich. Mit Mühe hat man sich nach den Wendewirren eine halbwegs solide Existenz aufgebaut. Die soll nicht durch eine vermeintliche Invasion von Ausländern, durch neue kollektive Integrationsleistungen oder gar eine Welthilfeleistung gefährdet werden. Vor allem aber fehlen der innere Halt, die Orientierung und die Motivation, um sich offensiv neuen Herausforderungen zu stellen. Der Nationalismus bietet einen Fluchtraum und ist so etwas wie Religionsersatz. Selbst die sozialistische Diktatur gab noch Halt, aber sie gilt als diskreditiert, und der alternativlose Kapitalismus fürchtet nichts mehr als Ideen und Visionen. Und genau so erscheinen dann seine politischen Exponenten*innen, die „weg müssen“ oder denen die AfD kräftig Feuer unter dem Hintern machen soll.

Hauptbaustelle bei den ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft

Das sind keine Einstellungen mündiger und souveräner Bürger*innen, aber die Reaktionen erscheinen menschlich verständlich. Es ist wichtig, zwischen dem größtenteils unerträglichen AfD-Parteipersonal und den Wählern*innen dieser Partei zu unterscheiden. Nicht nur statistisch belegt, sondern auch empirisch zu erfragen, trauen nämlich die Allerwenigsten dieser „Alternative“ eine wirkliche Alternative zu. Sie sollte auf keinen Fall regieren oder auch nur an einer Regierung beteiligt werden, ist in der Lausitz zu hören.

Wo ist dann die eigentliche Baustelle? Vor 46 Jahren hat der Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde ein nach ihm benanntes Theorem formuliert, das zumindest in der politischen Bildung bekannt ist. Demnach lebt der demokratische Staat von ethischen und kulturellen Grundlagen und Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen und garantieren kann. Sonst müsste er sie diktatorisch verordnen. Er muss sich also auf einen zivilgesellschaftlichen Minimalkonsens verlassen können. Genau der ist in Auflösung begriffen, hat das Wahlergebnis in alarmierender Weise gezeigt. Durch kosmetische Kurskorrekturen der etablierten Parteien wird er auch nicht wieder herzustellen sein, solange ihre Vertreter nicht tiefer blicken. „Die Politik ist am Ende“, ist gerade von Kulturleuten zu hören.

Auf diese sensiblen Menschen aber wird es ankommen, auf die so genannten Sinnstifter. „Es ist die Zeit der Künstler, der Philosophen, der Kirchenleute, derer, die eben nicht die Euro-Erbsen zählen“, sagt der Bautzener Theaterintendant Lutz Hillmann. Man könnte hinzufügen, dass es auch die Zeit all derer ist, die an das Gute im Menschen glauben und sich Empathiefähigkeit bewahrt haben. Das heißt auch, in globalen Zusammenhängen zu denken. Es gibt solche Menschen, wie die Bewährungsprobe der Flüchtlingsaufnahme 2015 gezeigt hat. Es gibt die Weiterdenker, die potenziellen Lehrer einer Gesellschaft, diejenigen, die mit künstlerischen oder wissenschaftlichen Mitteln oder durch ihr tätiges Engagement nach Antworten auf die bohrenden Fragen suchen.

Die entscheidende Frage ist nur immer wieder die nach der Reichweite, um es mit einem Terminus der Medienbranche zu sagen. Wen erreicht man? Es gibt – das mag man Pegida ausnahmsweise sogar zugute halten – eine wiedererwachte Diskussionsbereitschaft. Das heißt noch lange nicht, dass damit eine Debattenkultur einherginge. Sie hat den Zustrom zur destruktiven Meckererpartei AfD auch nicht gebremst. Und dennoch haben wir keine andere Wahl als die einer „inneren Mission“, um diesen Begriff aus der Evangelischen Kirche einmal zu verwenden. Noch einmal: Man sollte AfD-Wähler nicht verteufeln, sondern ihre weniger rationalen als emotionalen Beweggründe kennen lernen, auch wenn man sie nicht billigen kann und in ihren politischen Auswirkungen für gefährlich hält. Linke, aufgeklärte und weltbürgerliche Kräfte sollten ihrerseits nicht auch noch in ihrer Filterblase Halt suchen und nur noch mit ihresgleichen kommunizieren.

Viele wird man nicht erreichen, sie müssen vermutlich erst ihre ernüchternden Erfahrungen mit dem vermeintlichen Hoffnungsträger AfD machen. Aber dort, wo Menschen noch formbar sind wie in den Schulen, wäre es nun wiederum eine staatliche Aufgabe, klarere ethische, humanistische und kulturelle Postulate zu vermitteln. Damit sich aus diesen jungen Menschen eben eine tragfähige Zivilgesellschaft erneuert. Migrant*innen überhaupt bedürfen weniger unseres Schutzes als der Hilfe zu ihrer eigenen Emanzipation und Integration hier. Alle, die es gut mit ihnen meinen, sollten sich aber zugleich offensiv mit Problemen und negativen Begleiterscheinungen wie der Kriminalität einer kleinen Minderheit auseinandersetzen, um dem „gesunden Volksempfinden“ zu begegnen. Bräunliche Provokateure bekommen stets überproportionale Aufmerksamkeit. Kräfte, die unsere Gesellschaft im aufgeklärten und internationalistischen Geist wirklich noch zusammenhalten können, sollten sich viel lautstärker zu Wort melden.

Das sind einige meiner Vermutungen über die Ergebnisse der letzten Bundestagswahlen.

Die Ergebnisse der letzten Wahlen haben mich nicht überrascht. Ich habe schon in den letzten drei Jahren diese Entwicklung beobachten können und die komischen Blicke, die Angst in den Gesichtern einiger Mitmenschen wegen meines für sie fremden Aussehens und die Unzufriedenheit auf der Straße gespürt. Früher haben mich die Menschen nur als exotisch wahrgenommen. Dass sie mich nun als jemanden wahrnehmen, der gefährlich sein könnte, war für mich schwierig zu verarbeiten. Angst zu haben ist ein natürlicher Schutzmechanismus des Menschen, aber gefährlich wird es, wenn die Angst in Hass umschlägt, wie man es aktuell leider beobachten kann.

Für mich bedeutet Demokratie, dass alle Gesellschaftsgruppen in der Politik repräsentiert werden und sich aktiv beteiligen. Ich vergleiche Politik mit Religion. Politiker können viel Gutes schaffen, die Macht in den falschen Händen kann aber ebenso viel zerstören. Deshalb ist es so wichtig, bevor wir unsere Wahlentscheidung treffen, kritisch nachzudenken und uns zu fragen, von wem wir in der Politik vertreten werden möchte. Menschen sollten sich bei dieser Entscheidung nicht von Angst und Enttäuschung leiten lassen, sondern ihr Augenmerk auf nachhaltige und faire politische Strategien legen, von denen alle gesellschaftlichen Gruppen profitieren, auch die, die wir nicht verstehen.

Ich habe den Eindruck, dass auch in der Weltpolitik der Fokus darauf liegt, auszuwerten, was falsch gemacht wurde, statt zu schauen, was man besser machen könnte. Es werden keine friedlichen Dialoge geführt, die die Äußerung verschiedener Meinungen ermöglichen, ein Chance wirklich etwas aufzubauen und konstruktiv politische Entscheidungen zu treffen.

Ich wünsche mir mehr friedliche Dialoge, weniger Auswertungen, fairere und nachhaltigere politische Strategien sowie mehr Begegnungen zwischen den Menschen.

Progress is impossible without change, and those who can`t change their minds in the right direction (quality, respect, tolerance, health, education and access to development for everyone) cannot change anything.”

Unterstützt von Gerardo Palacios Borjas gründete das ENS zusammen mit über 30 anderen Organisationen im August 2017 das „Bündnis gegen Rassismus - für ein gerechtes und menschenwürdiges Sachsen“

 

Das Landesbüro Darstellende Künste Sachsen e.V. oder der Sächsische Wander- und Bergsportverband e.V., Parität und AWO – alle vereint das Bedürfnis, ein Zeichen setzen zu wollen:

  1. Wir sind sensibel für Rassismus in unseren eigenen Organisationen
    und setzen uns damit auseinander.

  2. Die öffentliche Positionierung gegen Rassismus in Sachsen ist uns
    ein wichtiges Anliegen. Was können und was wollen wir tun?

(aus dem Selbstverständnis siehe www.buendnisgegenrassismus.de)

Gerne stehen wir für weitere Verbände und sachsenweite Organisationen offen.

 

 

 

 


 

Proteste der Kampagne Sachsen kauft fair! bei der Pressekonferenz des Sächsischen Ministers für Justiz und Europa Dr. Jürgen Martens am 9. Mai 2014. Der Minister übergab symbolisch die neuen sächsischen Polizeiuniformen, die nachweislich nicht nach sozialen und ökologischen Kriterien vom Freistaat Sachsen eingekauft wurden.

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