Login to your account

Username *
Password *
Remember Me
Aktion am Goldenen Reiter - August macht sich stark für Existenzlohn Aktion am Goldenen Reiter - August macht sich stark für Existenzlohn Foto: Anne Schicht, 29. Oktober 2015

Menschenrechte lassen sich nicht so einfach zertifizieren

geschrieben von  Dr. Bettina Musiolek und Antonia Mertsching Nov 27, 2015

Kein Siegel garantiert faire Löhne oder die Einhaltung von Arbeitsrechten, auch nicht der neue FLO-Textilstandard (Stand März 2015), dessen Einführung von der Clean Clothes Campaign stark kritisiert wird.

 

Wer ein T-Shirt mit FairTrade- und/oder GOTS-Siegel kauft, glaubt sich schnell auf der sicheren Seite, die Klamotte mit einem guten Gewissen erstanden zu haben. Doch können kommerzielle Produkt-Zertifizierungsmodelle Menschenrechte in der Lieferkette sicherstellen? Diese Frage kommt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um den FairTrade/FLO-Textilstandard auf.

Die globalen Lieferketten in der Textilproduktion sind lang und unübersichtlich. Auftraggeberfirmen lassen weltweit produzieren, ohne die vielen Glieder der Auftragnehmer zu kennen. Sie geben damit die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen ab und erhöhen gleichzeitig den Preis- und Zeitdruck auf die Produktionsstätten. Dieses 'unternehmerische Geschäftsmodell' führt zur Ausbeutung der Arbeiter*innen am Ende der Kette – zum Beispiel beim Thema Löhne.

Die Studie IM STICH GELASSEN zeigte 2014 die gravierende Kluft zwischen Mindestlöhnen und Existenzlöhnen. Auch Transfair- oder GOTS-auditierte Lieferanten bilden davon KEINE Ausnahme. Die Näher*innen in Leutersdorf (Sachsen) beim PUMA-Lieferanten, in der Republika Srpska (Bosnien Herzegowina) beim Adidas-Lieferanten oder in Kosice (Slowakei) beim Fairtrade-Betrieb verdienen ebenso wenig einen Living Wage wie beim kambodschanischen H&M-Zulieferer oder dem türkischen GOTS-Produzenten. Wie kann das passieren?

Warum Produkt-Siegel nicht für die Einhaltung von Menschenrechten sorgen

 

Mit Produkt-Siegeln werden Produktionsstätten zertifiziert. Dies geschieht über so genannte Sozialaudits, die von Auditfirmen durchgeführt werden wie TÜV, SGS, IMO, Intertek, Bureau Veritas oder FLO-CERT. Sie bilden ein Billionen-schweres internationales Geschäft. Audits sind die Abarbeitung von Check-Listen, sie führen nicht zu einer realistischen Situationsbeschreibung. Sie sind nicht geeignet, um komplexe Problemlagen wie die Überstundenbezahlung, Vereinigungsfreiheit oder Diskriminierung zu erfassen und zu bearbeiten.

Kommerzielle Auditfirmen können die Wahrheit über Arbeitsbedingungen nicht zu Tage fördern, weil sie das „Königsinstrument“ dafür nicht in ihrer Werkzeugkiste haben: Off-site Workers Interviews – anonyme Beschäftigteninterviews außerhalb der Fabrik, die ohne negative Folgen für die Befragten bleiben.

Damit verlagern Zertifizierungs-Modelle die menschenrechtliche Verantwortung auf die

Lieferanten (Die Sub- und Sub-sub-Unternehmen bleiben dabei auch noch unberücksichtigt; dort jedoch finden sich die problematischsten Zustände!). Sie bezahlen das Audit. Der Lieferant hat auch für die Korrekturen, also beispielsweise Lohnerhöhungen, zu sorgen, ohne jedoch einen besseren Preis zu erzielen, um Verbesserungen von Arbeitsbedingungen auch finanzieren zu können. Bei wiederholter Nicht-Einhaltung wird das Siegel entzogen, statt einen konstruktiven Prozess anzustoßen.

 

Ein mehr-versprechender Ansatz: Multi-Stakeholder-Initiativen (MSI)

 

Durch die Mitgliedschaft in einer MSI verpflichtet sich das gesamte Unternehmen(!) sukzessive die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dies beinhaltet Verfahren für unabhängige Überprüfungen (inkl. Off-site Workers Interviews), die Erstellung von Verbesserungsmaßnahmeplänen (Corrective Action Plans), ethische Einkaufspraktiken, branchenweite Zusammenarbeit und die Berücksichtigung genderrelevanter Themen.

Dabei wird mit Gewerkschaften, Nicht-Regierungsorganisationen (NROs) und lokalen Organisationen zusammengearbeitet.

Produkt-Zertifizierungsmodelle fordern die Unternehmensverantwortung und menschenrechtliche Sorgfaltspflicht damit NICHT auf Seiten des Handels und seiner Einkaufspraktiken ein, sondern verlagern diese auf die Lieferanten und Zertifizierer. Beim MSI-Ansatz dagegen erkennt das Unternehmen seine Verantwortung für die Arbeitsbedingungen an und arbeitet an deren Umsetzung mit.

 

Kann der FLO-Textilstandard (Stand März 2015) Menschenrechte sicherstellen?

 

Im Bemühen, mit seinem Textilstandard systematisch in den Mainstream-Handel vorzudringen, beinhaltet die Standard-Präambel die bloße Einhaltung von Menschenrechten, verleiht aber dem Standard dann diverse Schlupflöcher, um diese Messlatte zu unterschreiten – z. B. beim Lohn.

Das Siegel darf verwendet werden, bevor z. B. ein Existenzlohn1 gezahlt wird. Bis zu neun Jahre sind für dessen komplette Umsetzung erlaubt. Das Siegel darf vergeben werden, ohne dass es funktionierende, demokratische Gewerkschaften gibt . Es geht jeder Anreiz für Unternehmen verloren, sich ernsthaft in bestehenden, weiter reichenden Initiativen zu engagieren – geschweige denn signifikante Fortschritte in Arbeitsbedingungen zu erreichen. Lizenznehmer können ihre Produkte zu höheren Preisen verkaufen, ohne ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nachgekommen zu sein.

In Bezug auf den Kernbereich des Fairen Handels – erhöhte Einkaufspreise der Fairhandels-Firmen bei den Lieferanten – besteht eine Leerstelle im FLO-Textilstandard. Er enthält keine Hinweise auf ein Fairtrade-Premium oder einen garantierten Mindestpreis.

Die Gestaltung der Einkaufsbedingungen spielt also insgesamt eine untergeordnete Rolle im FLO- Textilstandard. Korrekturmaßnahmen, z.B. Lohnerhöhungen, müssen jedoch verbindlich durch Anpassung der Einkaufspreise und -bedingungen ermöglicht werden.

Des Weiteren nennt der Standard GOTS, FWF, BSCI, ETI und SA8000 als akzeptierte Kontrollsysteme. Aufgrund der gravierenden Unterschiede in Qualität und Herangehen zwischen diesen Systemen ist ihre Gleichsetzung hochproblematisch. Die Probleme mit der Zertifizierung nach GOTS, BSCI oder SA8000 wurden oben beschrieben – sie treten produktbezogen auf. Unternehmen, die sich dem Multi-Stakeholder-Ansatz nach FWF oder ETI unterziehen, sind (noch) nicht fair und behaupten dies auch nicht von sich.

Darüber hinaus sind kommerzielle Zertifizierungs- und Auditfirmen wie FLO-CERT stark durch Einzelinteressen geprägt. Auch wenn es externe Firmen gegenüber den zu prüfenden sind, können sie nicht als unabhängig und überparteiisch gelten. Das von FLO-CERT vorgesehene „electronic certification system“ formalisiert, technisiert und entfernt den Kontrollprozess weiter von seinen eigentlichen Subjekten, den Arbeiter*innen. Sie werden zu Objekten formalisierter Managementinstrumente. Mit diesem FairTrade-Textilsiegel wird die Enteignung und Entfremdung der Arbeiter*innen von dem Prozess der Durchsetzung ihrer Rechte vorangetrieben, wie er prinzipiell in Audit-/Zertifizierungsmodellen angelegt ist.
 

Fazit

Fairtrade unterstützt damit „Fair-PR“ anstelle sektorweiter, ganzheitlicher, verbindlicher

Verbesserungsprozesse. Mehr noch: Kernansprüche des Fairen Handels und der Fairhandels-Bewegung wie Mindestpreise, Partizipation und Empowerment löst er nicht ein. Damit unterhöhlt FairTrade teils seine eigenen FairTrade-Normen und erweist mit dem weiter aufgeweichten Textilstandard den Menschenrechten bei der Arbeit einen katastrophalen Dienst.

Er führt Verbraucher*innen in die Irre und bringt Unternehmen davon ab, sich in weitergehenden, prozessorientierten und sektorweiten Initiativen in Multistakeholder-Settings zu engagieren. Da solche Initiativen vorliegen, fällt der FLO-Textilstandard ihnen in den Rücken. Die Vermutung liegt nahe, dass der Textilstandard menschenrechtlich anspruchslos ist, um seine Marktgängigkeit zu erhöhen.

Weltläden oder Menschenrechtsorganisationen wie die Clean Clothes Campaign (CCC) übten öffentlich Kritik an der Aufweichung der Fairhandels-Standards. Auch das Entwicklungspolitische Netzwerk Sachsen hat sich an Fairtrade gewandt und unterstützt die CCC-Position zum Entwurf des FLO-Textilstandards. Wir haben insbesondere auf die Folgen für die Fair Handels-Bewegung insgesamt hingewiesen ebenso wie auf die Folgen für die Arbeiter*innen, deren Interessen wir hier versuchen zu vertreten.

Abkürzungsverzeichnis

BSCI: Business Social Compliance Initiative

CCC: Clean Clothes Campaign

ETI: Ethical Trading Initiative

FLO: Fairtrade Labelling Organization International

FLO-CERT: Fairtrade certification & verification

FWF: Fair Wear Foundation

GOTS: Global Organic Textile Standard

IMO: Institut für Marktökologie

SGS: Société Générale de Surveillance

TÜV: Technischer Überwachungsverein

 

1Ein Existenzlohn muss laut Clean Clothes Campaign ein bedingungsloser Basis-Nettolohn sein, der für alle Beschäftigten garantiert ist. Der Richtwert muss das Ergebnis eines transparenten politischen Prozesses unter Einbeziehung von Stakeholdern, v.a. ArbeiterInnen und ihrer Organisationen, sein.

Letzte Änderung am Donnerstag, 24 November 2016 13:04

Schreibe einen Kommentar

Bitte achten Sie darauf, alle Felder mit Stern * zu füllen. HTML-Code ist nicht erlaubt.

  1. Beliebt
  2. Im Trend
  3. Kommentare

Neuste Artikel